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Mai 2024

Die sinnbefreite Sprechklausel – oder was die Bahn mit schlechten Betriebsvereinbarungen gemein hat

Verwaltungsgericht Stuttgart | 13 K 9542/16

Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat vier Klagen der Deutschen Bahn AG und zwei bahneigene Gesellschaften (im Folgenden: Eisenbahninfrastrukturunternehmen) gegen das Land Baden-Württemberg, die Landeshauptstadt Stuttgart, den Verband Region Stuttgart und die Flughafen Stuttgart GmbH abgewiesen.

Im Jahr 2009 schlossen die Deutsche Bahn AG sowie die Eisenbahninfrastrukturunter-nehmen mit den Beklagten einen Finanzierungsvertrag für das Projekt „Stuttgart 21“ ab. In § 6 dieses Finanzierungsvertrages wurden die damals prognostizierten Gesamtkosten von ca. 3,1 Mrd. Euro auf die Vertragsparteien verteilt. In § 8 Abs. 3 ist geregelt, wie Mehrkosten bis zu einem Betrag von ca. 4,5 Mrd. Euro von den Vertragsparteien zu tragen sind. Für darüber hinausgehende Kostensteigerungen enthält der Vertrag keine ausdrückliche Verteilungsregelung. § 8 Abs. 4 Satz 1 sieht lediglich vor, dass im Falle „weiterer Kostensteigerungen“ die Eisenbahninfrastrukturunternehmen und das Land Baden-Württemberg Gespräche aufnehmen (im Folgenden: „Sprechklausel“). Die Klägerinnen begehren mit ihren Klagen im Wesentlichen, dass sich die Beklagten an weiteren Kostensteigerungen für das Projekt „Stuttgart 21“ bis zu einer Höhe von ca. 11,8 Mrd. Euro beteiligen.

Das VG hat die Klagen in vollem Umfang abgewiesen. Sie ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerinnen keinen Anspruch gegen die Beklagten auf Übernahme weiterer Finanzierungsbeiträge für Mehrkosten des Projekts „Stuttgart 21“ haben. Ein solcher Anspruch kann nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung insbesondere nicht auf die „Sprechklausel“ des § 8 Abs. 4 des Finanzierungsvertrages gestützt werden. Die Kammer ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Vertragsparteien mit der „Sprechklausel“ keine verbindliche Regelung für die Vereinbarung weiterer Finanzierungsbeiträge im Wege der Fortschreibung des Finanzierungsvertrages treffen wollten. Der Wortlaut dieser Regelung verlangt die Aufnahme von Gesprächen, ohne dass hieraus eine Verhandlungspflicht oder gar ein Anspruch auf Vertragsanpassung abgeleitet werden kann.

Und da kommt die Betriebsvereinbarung ins Spiel: Die Erfahrung lehrt, dass wenn es nicht mehr weiter geht und die Parteien offene Zukunftsthemen keiner Lösung zuführen können, dann hilft man sich mit der Sprechklausel – „Die Betriebsparteien verpflichten sich,… blabla“. Dies Verlegenheit scheint gelöst, schlummert aber tatsächlich als dauerhafte Nichtlösung in der BV. Denn – s.o. – kommt es „zum Schwur“, sprich tritt der Verlegenheitsfall ein, muss gesprochen werden, aber mehr auch nicht – argh…. Das muss man mal gesagt bekommen oder erlebt haben.

Der freigestellte Highperformer

LAG Hamburg | Urteil vom 26.04.2023 | 3 Sa 29/22

Der Kläger, ein freigestellter Betriebsrat, war bei der Beklagten als Neuwagenverkäufer angestellt. Wie im Verkauf üblich, machten einen erheblichen Teil seines Einkommens Provisionszahlungen und Boni aus. Seine Verkaufsleistung lag zuletzt 33 % über der von anderen Verkäufern.

Im Wege seiner Freistellung als Betriebsrat einigte er sich mit der Beklagten auf die Vergütung in Form eines „Garantie-Einkommens“ für die Dauer der Freistellung. Dieses wurde bemessen nach dem Verdienst des Klägers in dem Jahr vor der Freistellung, einschließlich aller in diesem Jahr geflossenen Provisionen. Es betrug zunächst 7.489,54 Euro monatlich und wurde zuletzt auf 10.240,25 Euro angehoben. Den Erhöhungen lagen die Zielerreichungsboni im Mittelwert der Vergleichsgruppe zugrunde, also den weiterhin aktiven Verkäufern.

Der Kläger machte darüber hinaus jedoch weitere Ansprüche geltend, insbesondere verlangte er „nachlaufende Verkaufsprovisionen“ und einen höheren Zielerreichungsbonus. Seiner Ansicht nach habe er einen Anspruch auf die Auszahlung der Provisionen für Autoverkäufe vor seiner Freistellung, die erst nach seiner Freistellung zur Zahlung fällig wurden (deshalb „nachlaufend“). Dieser Zeitversatz spielte eine gewichtige Rolle, weil zwischen Verkaufsabschluss und Auslieferung der Fahrzeuge einige Zeit vergehen konnte. Eine Betriebsvereinbarung sah für den Fall, dass ein Verkäufer aus dem Verkauf in den Innendienst wechselt, eine solche nachlaufende Provision ausdrücklich vor. Dasselbe müsse darum auch bei Wechsel vom aktiven Verkauf in die Freistellung gelten, so der freigestellte Betriebsrat.

Außerdem sei bei der Feststellung der Provisionshöhe nicht auf den Durchschnitt seiner nicht freigestellten Kollegen abzustellen, sondern auf seine zuletzt um 33 % bessere Leistung. Bei einer hypothetischen Betrachtung würde er weiterhin mehr Fahrzeuge verkaufen als die Kollegen seiner Vergleichsgruppe, sofern er nicht vollfreigestellt wäre, sondern weiterarbeiten würde. Er werde sonst bei einem Abstellen auf die Vergleichsgruppe allein wegen seiner Tätigkeit als Betriebsratsmitglied wegen seiner Vollfreistellung schlechter gestellt.

Das Gericht gab der Klage zu 75 % statt. Durchsetzen konnte sich der Kläger in den Fragen der Anrechnung der diversen Boni und Sonderleistungen sowie vor allem bei der Berücksichtigung seiner persönlichen Besser-Leistung bei den Autoverkäufen im Vergleich zu seinen Kollegen. Hierzu stellte das Gericht fest: „Für die Höhe des Zielerreichungsbonus eines freigestellten Betriebsratsmitglieds ist nicht von vornherein der von einer Vergleichsgruppe erzielte Zielerreichungsgrad maßgeblich, wenn das Betriebsratsmitglied vor seiner Freistellung die Ziele in höherem Maß als die Arbeitnehmer der Vergleichsgruppe im gleichen Zeitraum erfüllt hat. Wer vor seiner Freistellung als Highperformer unterwegs war, kann nach der Freistellung als Betriebsrat nicht wie der Durchschnitt der übrigen Verkäufer behandelt werden. Das Gericht hat darum tatsächlich zugunsten des Klägers auf die Durchschnittsboni 33 % draufgeschlagen.

Ein Anspruch auf Zahlung von nachlaufenden Provisionen ab dem Zeitpunkt seiner Freistellung hat der Betriebsrat aber nicht. Hierzu stellte das Gericht fest, dass die Provisionsansprüche im Grunde entstanden waren, und zwar vollkommen unabhängig von der Bedeutung der nach Auffassung des Gerichts nicht einschlägigen Betriebsvereinbarung in dieser Frage.

Trotzdem könne der Kläger diesen Anspruch auf Provision nicht geltend machen. Dies wäre wegen widersprüchlichen Verhaltens treuwidrig nach § 242 BGB. Das Gericht wertete es als Widerspruch, wenn der Kläger einerseits die Berechnungsweise des Garantieeinkommens akzeptiere aber gleichzeitig und zusätzlich die Zahlung der nachlaufenden Provisionen verlange. Weil durch die Festlegung des Garantieeinkommens bereits die im Referenzzeitraum geflossenen Provisionen fortgezahlt würden, würde der Kläger ansonsten letztlich höhere Zahlungen erhalten, als wenn er weiterhin im bisherigen Umfang als Kraftfahrzeugverkäufer tätig gewesen wäre. Dies würde aber zu einer unzulässigen Begünstigung als Betriebsrat führen. Diesbezüglich gäbe es auch keine Vergleichbarkeit mit anderen Verkäufern, die in den Innendienst wechseln, weil die ja gerade kein unter Einschluss früherer Provisionen ermitteltes Garantie-Einkommen bezögen.

Ablehnung einer Teilzeit in der Elternzeit wegen Interessensausgleich mit Namensliste

Bundesarbeitsgericht | Urteil vom 05.09.2023 | 9 AZR 329/22

Die Parteien streiten um eine Teilzeitbeschäftigung und das damit verbundene Entgelt während einer Elternzeit. Der Kläger hat bei der beklagten Arbeitgeberin Elternzeit für seinen Sohn und gleichzeitig nach § 15 Abs. 7 BEEG für diesen Zeitraum Teilzeitbeschäftigung beantragt. Kurz vor diesem Antrag wurde bei der Beklagten eine Gesamtbetriebsvereinbarung über einen Interessenausgleich und Sozialplan geschlossen, wonach mehrere Tätigkeitsbereiche entfallen sollten. Die von der Maßnahme durch Arbeitsplatzverlust betroffenen Arbeitnehmer – darunter auch der Kläger – wurden namentlich bezeichnet. Den Antrag des Klägers auf Teilzeit während der Elternzeit lehnte die Beklagte unter Berufung auf dringende betriebliche Gründe ab. Als Begründung wurde die teilweise Verlagerung des Tätigkeitsbereichs des Klägers und die damit einhergehenden Umstrukturierungen genannt, weshalb der Arbeitsplatz des Klägers ersatzlos wegfallen werde. Mit seiner Klage begehrt der Kläger u.a. Beschäftigung während der Elternzeit im Umfang von 30 Wochenstunden. Er zweifelt an, dass dringende betriebliche Gründe seinem Elternzeitbegehren entgegenstehen, insbesondere bestehe hierfür auch keine gesetzliche Vermutung nach § 1 Abs. 5 KSchG (Namensliste). Das Arbeitsgericht hat die Klage auf Beschäftigung während der Elternzeit abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht führt zur Begründung im Wesentlichen an, dass die Voraussetzungen für die Verringerung der Arbeitszeit während der Elternzeit gem. § 15 Abs. 7 BEEG vorlägen. Insbesondere sei die Vermutung nach § 1 Abs. 5 KSchG für das Vorliegen dringender betrieblicher Gründe nicht anwendbar. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten.

Sind bei einer Betriebsänderung Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat namentlich bezeichnet, so wird vermutet, dass eine daraufhin ausgesprochene Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Diese gesetzliche Vermutung ist aufgrund des eindeutigen Wortlauts auf betriebsbedingte Kündigungen beschränkt, die gegenüber einem im Interessenausgleich namentlich bezeichneten Arbeitnehmer ausgesprochen werden. Das Bundesarbeitsgericht gab dem Kläger Recht und hat entschieden, dass die Beklagte verpflichtet war, der beantragten Teilzeit des Klägers zuzustimmen.

Maßgeblich führte das Bundesarbeitsgericht an, dass die Voraussetzungen des § 15 Abs. 7 S. 1 BEEG erfüllt seien. Insbesondere stünden keine dringenden betrieblichen Gründe im Sinne des § 15 Abs. 7 S. 1 Nr. 4 BEEG entgegen.

Das Vorliegen solcher Gründe sei nicht nach § 1 Abs. 5 KSchG zu vermuten. Diese gesetzliche Vermutung sei aufgrund des eindeutigen Wortlauts in § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG auf betriebsbedingte Kündigungen beschränkt, die gegenüber einem im Interessenausgleich namentlich bezeichneten Arbeitnehmer ausgesprochen werden. Gegenüber einem Teilzeitverlangen könne die Vermutungswirkung auch nicht im Wege einer analogen Anwendung des § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG herangezogen werden.

Die Vorstrafen hättest du uns mitteilen müssen

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg | Beschluss vom 04.05.2023 | 26 TaBV 920/22

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Arbeitgeber die Versetzung eines vorbestraften Arbeitnehmers aufheben muss. Der Arbeitgeber bietet Fortbildungen zur beruflichen Rehabilitation an. Versetzt werden sollte ein Arbeitnehmer auf die Stelle des Bereichsleiters in der Abteilung Integration und Qualifizierung/Bereich Steuern und Verwaltung, wo Verwaltungsfachangestellte für die Kommunal- und Bundesverwaltung ausgebildet werden.
Am 22. März 2022 wurde der Betriebsrat zu der geplanten Versetzung unterrichtet. Angaben zu den Vorstrafen machte der Arbeitgeber nicht. Am 25. März 2022 verlangte der Betriebsrat detailliertere Informationen. Nachdem er diese nicht erhielt, verweigerte er am 04. April 2022 seine Zustimmung, weil das für die zu besetzende Position erforderliche Vertrauen beim betroffenen Arbeitnehmer nicht gegeben sei. Der Arbeitgeber versetzte ihn dennoch – ohne Zustimmungsersetzungsverfahren.

Der Betriebsrat verlangte, dass diese Versetzung aufgehoben wird. Seine Begründung: Der Arbeitnehmer habe mehrere Straftaten begangen. Zudem bestehe die Besorgnis, er könne den Betriebsfrieden stören.

Nachdem schon das Arbeitsgericht die Anträge des Betriebsrats abgewiesen hatte, blieb auch die Beschwerde am LAG erfolglos. Die Zustimmung des Betriebsrats zu der Versetzung gilt nach § 99 Abs. 3 S. 2 BetrVG als erteilt, weil die Voraussetzungen für die Zustimmungsfiktion vorliegen. Nach ausreichender Information durch den Arbeitgeber am 22. März 2022 kam die Mitteilung der Zustimmungsverweigerung am 04. April 2022 zu spät. Der Betriebsrat hat also hier die Wochenfrist nicht eingehalten.

Bekannte Vorstrafen muss der Arbeitgeber nur mitteilen, wenn diese sich auf die fachliche Eignung auswirken könnten oder eine mögliche Gefährdung des Betriebsfriedens in Betracht kommt. Beides traf vorliegend nicht zu. Die Vorstrafen des Arbeitnehmers lagen entweder lange zurück oder waren für die künftige Tätigkeit als Bereichsleiter nicht einschlägig. Der Betriebsrat konnte auch keinen Zustimmungsverweigerungsgrund nach § 99 Abs. 2 Nr. 6 BetrVG geltend machen, da bei der Besorgnis, dass der Arbeitnehmer den Betriebsfrieden durch gesetzwidriges Verhalten oder Verstoß gegen die Grundsätze des § 75 Abs. 1 BetrVG stören könnte, strenge Maßstäbe anzulegen sind. Voraussetzung ist, dass eine künftige Störung objektiv prognostiziert werden kann. Der Arbeitnehmer hatte sich jedoch im Laufe der Zeit bewährt.

Mir steht genau so viel Vergütung zu wie dir

Landesarbeitsgericht Köln | Urteil vom 04.07.2023 | 4 Sa 638/22

Im vorliegenden Fall musste das Gericht darüber entscheiden, ob ein Arbeitnehmer, der als „Springer“ überregional eingesetzt wird, denselben Anspruch auf umsatzabhängige Sondervergütungen hat wie seine Kollegen, die fest einem bestimmten Standort zugeordnet sind.

Die Beklagte, ein Unternehmen mit einem europaweiten Netzwerk von Trainingsstudios, gewährt ihren Instruktoren unter bestimmten Bedingungen Sondervergütungen. Diese sind abhängig vom Umsatz des jeweiligen Studios, in dem der Mitarbeiter tätig ist. Ein Mitarbeiter, der aufgrund seines Vertrags bundesweit als Springer eingesetzt wurde, forderte ebenfalls eine Beteiligung an diesen Sondervergütungen – bezogen auf das Studio, das im Arbeitsvertrag als sein Hauptarbeitsort genannt wurde. Der Kläger argumentierte, dass die Nichtgewährung der Sondervergütung eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung darstelle und berief sich auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz.
Die Beklagte rechtfertigte die Differenzierung damit, dass der Kläger als Springer nicht in der gleichen Weise wie fest zugeordnete Mitarbeiter zur Umsatzsteigerung eines einzelnen Studios beitragen könne. Zudem sei seine überdurchschnittliche Vergütung als Kompensation für die fehlende Sondervergütung zu verstehen.

Das Landesarbeitsgericht Köln wies die Berufung des Klägers zurück und bestätigte damit das Urteil der Vorinstanz. Es befand, dass die Ungleichbehandlung des Klägers durch sachliche Gründe gerechtfertigt sei. Der Gleichbehandlungsgrundsatz finde zwar grundsätzlich Anwendung, jedoch sei die Differenzierung im konkreten Fall aufgrund der unterschiedlichen Tätigkeitsfelder und Einsatzgebiete des Springers im Vergleich zu fest zugeordneten Instruktoren sachlich gerechtfertigt. Die Tatsache, dass der Kläger eine höhere Grundvergütung erhielt, wurde als angemessene Kompensation für die nicht gewährte Sondervergütung angesehen.

Verrechnung von Stundenguthaben auf Arbeitszeitkonten nicht ohne Zustimmung des Arbeitnehmers rechtmäßig

LAG Köln | Urt. v. 11.07.2023 | 4 Sa 359/23

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt arbeitet der Kläger seit dem 01.04.2015 als Leitstellendisponent bei der Beklagten, einer Flughafenfeuerwehr, deren Mitarbeiter in 24-Stunden Diensten tätig sind. Die Berechnung und Verbuchung der Arbeitszeiten auf unterschiedliche Arbeitszeitkonten regelt unter anderem die „Betriebsvereinbarung 01/2013 über die Arbeitszeitgestaltung für das Feuerwehr- und Sanitätspersonal der Flughafen K/B GmbH“. Die Beklagte führte danach für die Arbeitsverhältnisse ihrer Mitarbeiter ein Sollkonto, ein Stundenkonto, ein Lebensarbeitszeitkonto, ein Feiertagskonto und ein Jahressollkonto. Auf dem Sollkonto werden zu Beginn des Kalenderjahres die jährlich von jedem Mitarbeiter geschuldeten 120 Schichten als Minus abgebildet, die über das Kalenderjahr abgebaut werden müssen. Die Schichten werden arbeitgeberseitig auf die Mitarbeiter verteilt, wobei Frei- und Tauschwünsche nach Bewilligung beachtet werden können. Fortbildungen und Tagesdienste werden nicht auf die Sollkonten gebucht, sondern auf dem Stundenkonto erfasst. Guthaben aus diesem Stundenkonto können in das Lebensarbeitszeitkonto übertragen werden, die den Mitarbeitern den vorzeitigen Ruhestand ermöglichen sollen.

Die BV bestimmt hierzu: „Werden auf dem Stundenkonto 16 Stunden angesammelt, können diese als eine Schicht vom Sollkonto abgezogen werden oder in das Lebensarbeitszeitkonto eingebracht werden.“ Eine Verrechnung etwaiger Guthaben auf dem Stundenkonto mit ausstehenden Zeitschulden auf dem Sollkonto zum Ende eines Jahres fand seit Inkrafttreten der Arbeitszeit BV am 01.01.2013 statt.

Die Beklagte buchte fehlende Sollschichten ab dem Jahreswechsel 2015/2016 nahezu jährlich zum Jahreswechsel vom Stundenkonto des Klägers auf dessen Sollkonto um und verrechnete so insgesamt 1.776 Stunden miteinander. In der Spitze wurden beim Kläger bis zu 560 Stunden (Jahreswechsel 2020/2021) umgebucht. Die Zustimmung zu den Verrechnungen holte die Beklagte zu keinem Zeitpunkt ein.

Der Kläger ist der Auffassung, dass die Beklagte ohne seine Zustimmung nicht zur Umbuchung und Verrechnung berechtigt gewesen sei. Insbesondere hätte die Beklagte ihm ermöglichen müssen, seine 120 Sollschichten tatsächlich abzuleisten. Sofern die Beklagte die Ableistung der Schichten nicht anbiete, befinde sie sich im Annahmeverzug. Zudem habe die Beklagte Mitarbeiter mit hohen Stundenkonten bei der Einteilung der Schichten weniger berücksichtigt.

Die Beklagte ist der Ansicht, eine Zustimmung des Klägers sei nicht erforderlich gewesen. Die Möglichkeit der Verrechnung von Zeitguthaben des Stundenkontos mit den Zeitguthaben des Sollkontos ergebe sich aus den betrieblichen Regelungen.
Nachdem das ArbG Köln die Klage abgewiesen hat, hatte die Berufung des Klägers teilweise Erfolg. Das LAG Köln vertritt die Auffassung, die Beklagte könne nicht einseitig und ohne Zustimmung eine Verrechnung der Zeitguthaben der Arbeitszeitkonten vornehmen. Eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung, die den Arbeitgeber dazu berechtigen würde, Verrechnungen zwischen dem Stunden- und dem Sollkonto einseitig vorzunehmen, sei unwirksam. Eine solche einseitige Verrechnung würde das Betriebsrisiko des Arbeitgebers in unrechtmäßiger Weise auf die Belegschaft übertragen. Die Beklagte würde so ohne Weiteres berechtigt, arbeitsfähige und arbeitswillige Mitarbeiter nicht mehr einzusetzen. Dies hätte zur Folge, dass der Arbeitsausfall – also die Realisierung des Betriebsrisikos – keine finanzielle Konsequenzen für die Beklagte hätte. Sie müsste hiernach ausschließlich die Stunden vergüten, die der Mitarbeiter in der Vergangenheit abgeleistet hat. Betriebsbedingte Arbeitsausfälle sind jedoch nach § 615 BGB vom Arbeitgeber unter Zahlung des vereinbarten Lohns zu vergüten. Auch wenn die Regelung des § 615 BGB grundsätzlich abdingbar ist, so kann der Arbeitgeber jedoch nicht generell das ihn treffende Arbeitsentgeltrisiko auf den Arbeitnehmer verlagern. Dies habe die Beklagte vorliegend jedoch getan.

Nach Auslegung der BV liege es nahe, dass der Mitarbeiter die Entscheidung treffen dürfe, ob die Stunden verrechnet würden oder nicht, da diese Entscheidung unmittelbare Auswirkung auf seine finanzielle Situation habe. Im Falle der Verrechnung erhalte der Mitarbeiter Freizeit, aber keinen Lohn. Falls keine Verrechnung vorgenommen werde, müsse der Mitarbeiter – obwohl sein Stundenkonto ein Guthaben aufweist – dennoch sämtliche 120 Schichten pro Jahr erbringen.

Das Gericht stellte zudem fest, dass die Umbuchung von Stunden in erheblichem Umfang zum Ende des Jahres auch keine allgemein anerkannte bzw. gelebte Praxis war. In den Jahren bis 2020 betrug die Zahl der umgebuchten Stunden lediglich bis zu 176 Stunden pro Jahr. Zum Jahreswechsel 2020/2021 wurden beim Kläger jedoch 560 Stunden verrechnet.

Ich habe ihr versehentlich an die Brüste gefasst

ArbG Berlin | Urt. v. 6.9.2023 - 22 Ca 1097/23 | Pressemitteilung v. 19.9.2023

Die Arbeitnehmerin und der Arbeitnehmer sind bei einer Bundesbehörde beschäftigt – der Arbeitnehmer bereits seit 19 Jahren. Die Arbeitnehmerin beklagte sich über Rückenschmerzen. Ein Arbeitskollege bot sich an, ihren Rücken abzutasten. Die Arbeitnehmerin willigte ein. Der Arbeitnehmer berührte zunächst ihren nackten Rücken, wozu ihre Oberkleidung hochgeschoben und ihr BH geöffnet wurde. Dies alles geschah noch mit Einwilligung der Arbeitnehmerin.

Dann aber soll der Arbeitnehmer mit seinen Händen die Brüste der Kollegin berührt haben. Und dies natürlich ohne Einwilligung.
Die Arbeitgeberin kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis fristlos. Die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage blieb erfolglos.
Der Arbeitnehmer wurde persönlich angehört und die Arbeitnehmerin als Zeugin vernommen. Die Behauptung des Arbeitnehmers, es habe sich bei der Berührung der Brüste lediglich um ein unbeabsichtigtes seitliches Streifen gehandelt, als er versuchte, den BH wieder zu schließen, hielt das Arbeitsgericht für eine Schutzbehauptung. Die Schilderung der Kollegin hingegen wertete das Arbeitsgericht als glaubhaft. Es seien keine Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass die Kollegin den Arbeitnehmer zu Unrecht einer sexuellen Belästigung bezichtigen wolle. Wegen der Schwere der Pflichtverletzung sei eine vorhergehende Abmahnung entbehrlich.

Auch die langjährige Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Abwägung der Interessen der Arbeitgeberin einerseits und des nur noch außerordentlich kündbaren Arbeitnehmers andererseits falle zu dessen Lasten aus.

Ich werde mich nicht bewerben

Bundesarbeitsgericht | Urteil vom 07.02.2024 | 5 AZR 177/23

Das BAG hatte sich in seinem Urteil vom 07.02.2024 – 5 AZR 177/23 – mit der Frage zu befassen, ob ein „böswilliges Unterlassen anderweitigen Erwerbs“ im o.g. Sinne auch dann vorliegt, wenn der gekündigte Arbeitnehmer zwar seiner Meldepflicht nach § 38 Abs. 1 SGB III nachgekommen ist, gleichzeitig aber durch sein Verhalten dafür gesorgt hat, dass die Agentur für Arbeit ihm tatsächlich keine Vermittlungsvorschläge unterbreitet. In dem zu entscheidenden Fall hatte der Arbeitnehmer der Agentur für Arbeit mitgeteilt, dass er keine Vermittlungsvorschläge wünsche und erklärt, dass er sich bewerben werde, wenn man ihn dazu zwinge. Einem potenziellen Arbeitgeber würde er jedoch bei einer Bewerbung – noch vor einem Vorstellungsgespräch – mitteilen, dass bei seinem letzten Arbeitgeber ein Gerichtsverfahren anhängig sei und er dort unbedingt weiterarbeiten wolle. Dieses Verhalten wurde von der Vorinstanz – dem LAG Baden-Württemberg – aus Sicht des BAG nicht ausreichend gewürdigt, so dass die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen wurde.

Mal was zum § 85 BetrVG. Ist selten

LAG Köln | Beschluss vom 7. März 2024 | Az. 9 TaBV 6/24

Im vorliegenden Fall gab es im Unternehmen eine Betriebsvereinbarung zum Arbeiten im Ausland. Zum Rechtsstreit kam es, weil der Arbeitgeber entschied, zukünftig mobile Arbeit im Ausland nur in besonders gelagerten Härtefällen oder zur zielgerichteten Gewinnung von Fachpersonal aus dem Ausland im Einzelfall zu genehmigen. Den Antrag eines Arbeitnehmers lehnte er aus diesem Grund ab. Dieser wandte sich an den Betriebsrat.

Der Arbeitnehmer beantragte eine Woche arbeiten in Italien. Das lehnte der Arbeitgeber ab, da es sich um keinen Härtefall handele. Die Ablehnung hielt der Arbeitnehmer für rechtswidrig. Wegen dieser Behandlung durch den Arbeitgeber legte er beim Betriebsrat Beschwerde gemäß § 85 BetrVG ein. Nach seiner Ansicht gab es in der bestehenden Betriebsvereinbarung keine Grundlage für eine Beschränkung mobilen Arbeitens im Ausland auf „Fälle sozialer Härte“. Die Betriebsvereinbarung enthielt als Vorgabe hinsichtlich mobiler Arbeit im Ausland nur die Prüfung der arbeits-, sozialversicherungs-, datenschutz- und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen und dass keine betrieblichen Gründe entgegenstehen. Geregelt war zudem, dass Arbeitnehmende keinen individuell einklagbaren Anspruch auf mobiles Arbeiten im Ausland haben.

Der Betriebsrat hielt die Beschwerde des Arbeitnehmers für berechtigt und beschloss für den Fall, dass sich die Meinungsverschiedenheiten mit dem Arbeitgeber nicht klären würden, die Einigungsstelle anzurufen. Gemäß § 85 Abs.2 S.2 BetrVG ersetzt der Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Dies gilt allerdings nicht, wenn Gegenstand der Beschwerde ein Rechtsanspruch ist. Aus Sicht des Arbeitsgebers war der Weg zur Einigungsstelle dem Betriebsrat verwehrt. Die Beschwerde habe lediglich einen Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten zum Inhalt, zudem habe er ihr abgeholfen. Aus Sicht des Betriebsrats war beides nicht der Fall.

Vor dem LAG Köln hatte der Betriebsrat Erfolg. Das Gericht war anderer Auffassung als der Arbeitgeber. Es stellte fest, dass Gegenstand der Beschwerde des Arbeitnehmers kein Rechtsanspruch war. Den Antrag des Betriebsrats auf Einsetzung einer Einigungsstelle hielt es für zulässig, die Beschwerde des Arbeitgebers dagegen für unbegründet. In der Begründung führte das Gericht aus, dass die Einigungsstelle die Aufgabe habe, einen Streit zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber beizulegen, auch wenn es um Meinungsverschiedenheiten über eine Beschwerde des Arbeitnehmers geht. Letztlich solle mit dem Einigungsverfahren ein betrieblicher Regelungskonflikt beendet werden.

Die Auffassung des LAG Köln ist zutreffend: Es dürfe sich richtigerweise nicht um einen Rechtsanspruch des Arbeitnehmers handeln, denn einen solchen müsse dieser beim Arbeitsgericht einklagen. Eine solche Möglichkeit gab es vorliegend jedoch nicht, stellte das LAG Köln fest: Ein direkter Anspruch gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG aus der Betriebsvereinbarung lag in diesem Fall nicht vor, denn dort wurde ein individuell einklagbarer Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten aus dem Ausland ausdrücklich ausgeschlossen. Ein solcher Rechtsanspruch ergab sich für das Gericht auch nicht aus einer gesetzlichen oder tariflichen Bestimmung, einer vertraglichen Vereinbarung oder dem arbeitsvertraglichen Gleichbehandlungsgrundsatz.

Good Night & Good Luck
Ihr, euer Dr. Stephan Grundmann
und Team Arbeitsrecht